Jury schlägt „86° (WALTER HALİT)“ zur Realisierung vor

Natascha Sadr Haghighian ist Siegerin des Kunstwettbewerbs „Für eine offene und freiheitliche Gesellschaft“
Kassel(pm). Die Jury des Kunstwettbewerbs „Für eine offene und freiheitliche Gesellschaft“ schlägt dem Regierungspräsidium Kassel den Entwurf „86° (WALTER HALİT)“ von Natascha Sadr Haghighian zur Realisierung vor. Fünf Künstlerinnen und Künstler hatten Entwürfe für ein Kunstwerk eingereicht, das an Regierungspräsident Dr. Walter Lübcke erinnern und für die von ihm verkörperten Werte werben soll.
Einer Idee aus dem Kreise der Mitarbeitenden des Regierungspräsidiums folgend, hatte eine Kommission nach der Ermordung Walter Lübckes einen beschränkten Kunstwettbewerb initiiert. Sechs Künstlerinnen und Künstler wurden aufgefordert, Entwürfe einzureichen für ein Kunstwerk, das offensiv die Ermutigung und Forderung formulieren soll, für Werte wie Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und eine offene Gesellschaft einzustehen. Fünf Teilnehmende hatten daraufhin Entwürfe eingereicht: Andrea Büttner, Natascha Sadr Haghighian, Patricia Kaersenhout, Arwed Messmer und Andreas Siekmann. Nach eingehender Begutachtung und Diskussion der Entwürfe kam die hochkarätig besetzte Fachjury nun einhellig zu dem Entschluss,  Natascha Sadr Haghighian den Sieg zuzusprechen und ihren Entwurf dem Regierungspräsidium Kassel zur Realisierung vorzuschlagen.


Leuchtkästen auf dem RP-Dach
Natascha Sadr Haghighian entwirft in ihrem Beitrag zwei jeweils 5 Meter lange und 2,5 Meter hohe, mit einem textilen Gewebe bespannte und in Spektralfarben schillernde Leuchtkästen, die die Namen „HALİT“ und „WALTER“ tragen. Diese sollen auf dem Dach des
Regierungspräsidiums in einem 86-Grad-Winkel so positioniert werden, dass die Schenkel des Winkels jeweils auf die Orte zeigen, an denen
Halit Yozgat (1985-2006), ein in Kassel geborener, türkischstämmiger Betreiber eines Internetcafés, und Regierungspräsident Walter Lübcke
(1953-2019), der sich als Demokrat für Geflüchtete und Migration einsetzte, von Rechtsradikalen ermordet wurden. Die Schriftart „Martin“,
die Sadr Haghighian für „HALİT“ und „WALTER“ verwendet, ist benannt nach Martin Luther King Jr. und inspiriert von den Posterkampagnen des Streiks der Stadtreinigung von Memphis aus dem Jahr 1968, und stellt einen wichtigen Bezug zur Geschichte der gewaltfreien antirassistischen Kämpfe in der Welt her.

Konzeptionelle Schärfe und humane Kraft
Sadr Haghighians Arbeit sticht laut Juryvotum durch den „starken Signalcharakter des Entwurfs, der sowohl bei Tag als auch bei Nacht
weithin sichtbar ist,“ hervor. Daneben überzeugte „die konzeptionelle Schärfe, die durchdachte, humane und zukunftsweisende Kraft des
Vorschlags“ die Jury. „Die Verbindung der auf die Vornamen reduzierten Nennungen schlägt eine Brücke der Solidarität zwischen den beiden
unterschiedlichen Opfern des rechten Terrors in Kassel.“ Zugleich werde ein wirksames Zeichen gegen das Vergessen und für das aktive
Eintreten für unsere demokratischen Werte in Deutschland und Europa formuliert, heißt es weiter in der Begründung der Jury. „Als ,Leuchtturm‘ auf dem Dach des Regierungspräsidiums erinnert Sadr Haghighians Vision für das Kunstwerk einmal mehr daran, dass es die Menschen sind, die eine starke Demokratie aufbauen. Mit einem QR-Code vor dem Gebäude, der die Hintergründe des Kunstwerks auf zugängliche Weise erklärt, erweitert 86° (WALTER HALİT) die Sachlichkeit und Funktionalität des in den späten 1950er Jahren errichteten Gebäudes um eine sowohl emotionale wie zeitgenössische Komponente.“ Regierungspräsident Hermann-Josef Klüber, selbst Mitglied der
Auswahljury, beglückwünschte  Sadr Haghighian zu ihrem Entwurf und zum Wettbewerbssieg: „Say their Names – Sagt ihre Namen! Von
dieser Forderung, die Opferangehörige immer wieder erheben, haben Sie sich leiten lassen. Nach der Entscheidung der Jury wollen wir jetzt
die Zustimmung der Eigentümer einholen und auf vielfältige Spenden hoffen, um das Kunstwerk auch auf unserem Regierungspräsidium
errichten zu können.“


Die Künstlerin erklärte nach Bekanntwerden der Entscheidung: „Ich freue mich sehr über die Entscheidung der Jury und bin gespannt auf den Prozess der Umsetzung von 86° (WALTER HALİT) auf dem Dach des Regierungspräsidiums, begleitet von einem Vermittlungsteil.
Seit der documenta 13 verbindet mich eine kontinuierliche Auseinandersetzung und inzwischen auch tiefe Freundschaften mit der Stadt. Ich habe Kassel als eine postmigrantische, vielschichtige Stadt kennengelernt, in der Geschichte auf vielerlei Weise spürbar ist. Von Kassel lernen, heißt den Brüchen und Kontinuitäten der Stadt zuzuhören und sich den Dringlichkeiten zuzuwenden, die daraus hervorgehen. Rechte Strukturen und rechte Gewalt stellen über Kassel hinaus eine erschreckende Kontinuität dar und dies in die Sichtbarkeit zu holen, kann nur ein erster Schritt sein. Meine Gedanken sind in diesem Moment vor allem bei den Familien und Freunden der Opfer rechter Gewalt. Im Besonderen denke ich an Familie Lübcke und an Familie Yozgat, die Unfassbares erleiden mussten. Meine Gedanken sind auch bei Ahmed I. der noch heute unter den Folgen des rassistischen Angriffs leidet, dem er 2016 zum Opfer fiel. Walter und Halit sind Teil von uns, so wie Mercedes, Kaloyan, Said Nesar, Sedat, Fatih, Vili Viorel, Hamza, Ferhat, Gökhan, Enver, Abdurrahim, Süleyman, Habil, Mehmet, Ismail, Theodoros, Mehmet, Gürsün, Hatice, Gülüstan, Hülya, Saime, Oury, Ahmad und die vielen anderen für immer untrennbar Teil von uns sind. Erst wenn wir das verstehen, können wir rechten Terror stoppen. Um es mit den Worten von Halit Yozgats Vater zu sagen: „Es darf keine
weiteren Halits geben“, und heute müssen wir traurigerweise ergänzen: „es darf keine weiteren Walters geben“. Niemand darf seinen Vater,
Sohn, Tochter, Partner, Bruder, Schwester, Freund verlieren, weil rechte Strukturen nicht klar und entschieden bekämpft werden. Sorgen wir
dafür!“

Realisierung ist von Spenden abhängig
Alle weiteren Kosten, die im Zusammenhang mit der Erschaffung des Kunstwerks entstehen werden, sollen durch Spenden gedeckt werden.
Hierfür kooperiert das Regierungspräsidium Kassel mit der Bürgerstiftung für Stadt und Landkreis Kassel. Ein Spendenaufruf erfolgt zu einem späteren Zeitpunkt.

Die Künstlerin
Im Rahmen ihrer künstlerischen Tätigkeit veröffentlicht Natascha Sadr Haghighian keine biografischen Informationen zu ihrer Person.
Anstelle ihres Lebenslaufs möchte Natascha Sadr Haghighian Leserinnen und Leser auf bioswop.net aufmerksam machen. Auf www.bioswop.net können sich KünstlerInnen und andere Kulturschaffende austauschen und Lebensläufe für verschiedene Zwecke zusammenstellen. Die Seite ging im Oktober 2004 online und ist ein work in progress. Das Ziel ist, dass immer mehr Menschen ihre
Lebensläufe zu repräsentativen Zwecken (wie z.B. Kataloge etc.) austauschen. Das Projekt zielt auf noch mehr „Redundanz“ in diesem
speziellen Bereich der künstlerischen Produktion ab. Bioswop hofft, den Sinn von Kunst-Lebensläufen endgültig zu untergraben – oder ihre
Lektüre zumindest etwas unterhaltsamer zu machen.

Der Wettbewerb
Eine Arbeitsgruppe aus dem Kreis der RP-Mitarbeitenden hatte 2019 die Ausschreibung eines Kunstwettbewerbs vorgeschlagen. Mit
Unterstützung und Beratung des langjährigen Dozenten der Kasseler Kunsthochschule und ehemaligen Vorsitzenden des Kasseler
Kunstvereins – Bernhard Balkenhol – hatte sich die Arbeitsgruppe anschließend auf die Ausschreibung eines Kunstwettbewerbs geeinigt,
in dem das künstlerische Medium bewusst offengelassen wurde. Eine Kommission unter Beteiligung von Regierungspräsidium, Fachleuten aus dem Kunstbereich sowie Vertreterinnen und Vertretern der Stadtgesellschaft hat danach Vorschläge gesammelt, welche Künstlerinnen und Künstler im Rahmen der Ausschreibung beteiligt werden sollten. Hierbei gab es eine Vielzahl von nationalen und internationalen Vorschlägen, wobei sich die Kommission einhellig auf sechs Künstlerinnen und Künstler geeinigt hat. Davon haben letztendlich fünf Künstlerinnen und Künstler Entwürfe eingereicht. Die Finanzierung der Ausschreibung und der Kosten für die Erstellung der Entwürfe erfolgte durch die Einnahmen aus dem Verkauf der Briefmarke Individuell, die das RP Kassel gemeinsam mit der Deutschen Post 2020
zum ersten Jahrestag des Todes von Dr. Lübcke herausgegeben hat. Die Teilnehmenden haben für ihre Entwürfe ein Honorar erhalten sowie
Auslagen z.B. für Material erstattet bekommen. Die vorliegenden Entwürfe wurden im November 2021 öffentlich in Kassel präsentiert, zunächst im Kasseler Kunstverein und anschließend im Regierungspräsidium.

Die Jury
Parallel zur Öffentlichkeit hat eine Fachjury die Entwürfe begutachtet und anschließend in Präsenz in Kassel getagt. Die Jury setzt sich
zusammen aus Vertreterinnen und Vertretern des Regierungspräsidiums, der Kasseler Stadtgesellschaft sowie renommierten Fachpersonen aus Kunstwissenschaft und Kunstbetrieb:
Stephan Berg, Intendant des Kunstmuseums Bonn, Honorarprofessor an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig, Kurator, Publizist Ingo Buchholz, Vorsitzender der Bürgerstiftung für Stadt und Landkreis Kassel Gürsoy Doğtaş, Kunsthistoriker am Institut für Kunst und Gesellschaft der Universität für angewandte Kunst Wien, Kurator, Publizist Övül Ö. Durmusoğlu, Gastprofessorin an der Graduiertenschule der Universität der Künste Berlin, Kuratorin, Autorin Reiner Finkeldey, Präsident a.D. der Universität Kassel Winfried Hausmann, Abteilungsleiter a.D. des Regierungspräsidiums Kassel Hermann-Josef Klüber, Kasseler Regierungspräsident Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, künstlerischer Leiter des Kunstraums SAVVY Contemporary, zum 01.01.2023 berufener Intendant am Haus der Kulturen der Welt in Berlin, Kurator, Kunstkritiker, Autor, Biotechnologe Christof Nolda, Stadtbaurat der Stadt Kassel Angelika Nollert, Direktorin der Neuen Sammlung – The Design Museum München, Honorarprofessorin an der Akademie der Bildenden Künste München, Kunsthistorikerin
Susanne Völker, Kulturdezernentin der Stadt Kassel Karl Waldeck, Direktor der Evangelischen Akademie Hofgeismar Haegue Yang, Installationskünstlerin, Professorin für Bildende Kunst an  der Städelschule

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