Der Werdenfelser Weg: gegen Fixierung in Pflegeheimen

Psychiaterin Annette Maraun-Brüggemann, die beim Gesundheitsamt des Landkreises als Fachärztin tätig ist, hielt einen Vortrag über medizinische Aspekte freiheitsentziehender Maßnahmen. Foto: Landkreis Waldeck-Frankenberg/nh

Die Betreuungsrichter des Amtsgerichts Korbach und der Landkreis Waldeck-Frankenberg gehen neue Wege

Waldeck-Frankenberg(nh/od). Bettgitter, Bauchgurte oder Tischplatten an Rollstühlen: derzeit werden pro Jahr bundesweit etwa 340.000 freiheitsentziehende Maßnahmen in deutschen Pflegeheimen angewendet. Sie sollen Pflegebedürftige vor lebensgefährlichen Stürzen bewahren, haben jedoch nicht selten schwere körperliche und seelische Folgen. Gemeinsam mit dem Landkreis Waldeck-Frankenberg haben die Betreuungsrichter des Amtsgerichts Korbach und die Heimaufsicht des Regierungspräsidiums im Rahmen einer Veranstaltung im Kreishaus nun über den „Werdenfelser Weg“ informiert – ein Modell, welches alternative Lösungen zur Fixierung bietet.

 

„Dieser verfahrensrechtliche Ansatz basiert auf der gemeinsamen Zielsetzung, freiheitsentziehende Maßnahmen in jedem Einzelfall noch stärker individuell abzuwägen und auf ein unumgängliches Minimum zu verringern“, so Richter Florian Günthner. Es sollen künftig speziell ausgebildete Verfahrenspfleger in jedem Einzelfall prüfen, ob Anträge auf Fixierung – die vom Betreuungsgericht genehmigt werden müssen – auch tatsächlich unausweichlich sind. „Kaum einem Pflegenden wird es leicht fallen, Patienten ans Bett zu fixieren. Die Angst vor schweren Stürzen und daraus folgende Haftpflichtklagen ist jedoch manchmal größer, als der Zweifel an einer Fixierung“, so Dr. Robert Hinz, Leiter der Betreuungs- und Pflegeaufsicht.

Das soll sich durch das neue Modell ändern. Besteht Sturzgefahr für einen Pflegebedürftigen, sollen Verfahrenspfleger künftig vor Ort mit dem Betroffenen sowie den Angehörigen und dem Pflegeteam versuchen, Maßnahmen zu erarbeiten, die neben hoher Sicherheit auch Bewegungsfreiheit und Lebensqualität bieten. „Dabei besteht der Weg oftmals aus behutsamem Ausprobieren, partnerschaftlichem Informationsaustausch, gemeinsamer Abwägungsarbeit und pflegefachlicher Einzelfallanalyse“, erklärt Psychiaterin Annette Maraun-Brüggemann, die beim Gesundheitsamt des Landkreises als Fachärztin tätig ist und im Rahmen der Infoveranstaltung über die medizinischen Aspekte freiheitsentziehender Maßnahmen informierte. So können oft schon gezielte Maßnahmen wie Protektoren, Antirutsch- und Sensormatten, absenkbare Betten oder Bewegungsmelder helfen, den Patienten sicher zu betreuen – und ihm gleichzeitig ein hohes Maß an Selbstbestimmtheit gewähren. „Das Handeln nach dem Werdenfelser Weg bietet aber auch den betreuenden Pflegekräften ein gewisses Maß an Sicherheit“, erklärt Henrik Ludwig, Richter am Amtsgericht Korbach. „Durch die Verfahrenspfleger, die sowohl pflegerische als auch rechtliche Kenntnisse besitzen, werden auch die Mitarbeiter in Pflegeheimen in der Entscheidung unterstützt, ob ein Antrag auf Fixierung gestellt werden sollte oder nicht.“ Dadurch seien auch die Pflegekräfte in ihrem Handeln rechtlich abgesichert. „Denn das Pflegepersonal leistet eine wichtige und nicht immer einfache Arbeit am Menschen – und das engagiert und mit viel Hingabe“, sagt Landrat Dr. Reinhard Kubat. „Daher ist es ganz wichtig, dass deutlich wird, dass wir mit diesem Schritt keine Fronten zwischen uns und den Heimen aufbauen wollen, sondern die Pflegeeinrichtungen mitnehmen möchten auf diesen neuen Weg.“ Darüber hinaus bewertet er das Bekenntnis des Amtsgerichts Korbach zum Werdenfelser Weg als einen überaus positiven Schritt. „Selbstverständlich haben sich unsere Betreuungsbehörde und auch die Betreuungs- und Pflegeaufsicht beim Regierungspräsidium diesem Bekenntnis angeschlossen. Ich bin stolz, dass dieses Signal hier von Waldeck-Frankenberg ausgeht“, so Dr. Reinhard Kubat.

An der Informationsveranstaltung nahmen zahlreiche Mitarbeiter aus dem Betreuungs- und Pflegebereich sowie Richter des Amtsgerichts teil. Neben dem medizinischen Fachvortrag von Annette Maraun-Brüggemann gab es weitere Fachvorträge zum Thema freiheitsentziehende Maßnahmen. So berichtete Michael Poetsch vom Hessischen Sozialministerium aus pflegerischer Sicht über das Projekt. Dr. Hinz vom Regierungspräsidium Kassel und die Betreuungsrichter des Amtsgerichts Korbach sowie Richter Heidelbach vom Amtsgericht in Melsungen beleuchteten in ihren Vorträgen die rechtliche Seite des Modells.

Hintergrundinformation:
Der Werdenfelser Weg ist zum Modellprojekt für gleichartige Initiativen in anderen Landkreisen in Deutschland und somit zu einem Synonym für professionsübergreifende Ansätze zur Fixierungsreduzierung geworden. Das Projekt macht mittlerweile deutschlandweit Schule. Über 100 Landkreise bzw. Städte bundesweit haben innerhalb der letzten Jahre ihre Arbeitsweise angeglichen, darunter die Städte München, Nürnberg, Köln, Stuttgart und Bonn. Auch in einigen Bezirken von Hamburg und Berlin ist die Tendenz stark steigend.

 Bildunterschrift1: Teilnehmer der Veranstaltung: Annette Mauraun-Brüggemann, (Fachärztin und Psychiaterin, Gesundheitsamt des Landkreises Waldeck-Frankenberg), Bettina Jost (Betreuungsbehörde des Landkreises Waldeck-Frankenberg), Henrik Ludwig (Richter AG Korbach), Sieglinde Rößner (Verfahrenspflegerin), Dr. Marc Wolf (Richter Amtsgericht Korbach), Michael Poetsch (Projektkoordinator Hessisches Sozialministerium), Melanie Neuschäfer (Richterin Amtsgericht Korbach), Florian Günthner (Richter Amtsgericht Korbach), Stefan Heidelbach (Richter Amtsgericht Melsungen), Vera Kreis (Verfahrenspflegerin), Silke Saure (Betreuungsbehörde des Landkreises Waldeck-Frankenberg), Monika Kubiak (Verfahrenspflegerin), Dr. Robert Hinz, Betreuungs- und Pflegeaufsicht (RP Kassel), Bärbel Schmidt, Verfahrenspflegerin. Foto: Landkreis Waldeck-Frankenberg/nh

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