Die verlorene Welt der Juden im Osten

Vorgestellt wird ein ukrainisch-jüdischer Schriftsteller, der in jiddischer Sprache von den Schtetls erzählt

Ellershausen/Vöhl(Klaus Brill). Es war eine Welt, die niemals wieder aufersteht – die Welt der jüdischen Schtetl. In Polen, Weißrussland, Litauen, der Ukraine und einigen angrenzenden Gebieten lebten bis zur Nazi-Zeit mehr als vier Fünftel aller Juden in Europa. Viele von ihnen wohnten in ärmlichen Städtchen und Dörfern, deren Mitte ihre hölzernen Hütten und ihr Bethaus bildeten. Sie sprachen Jiddisch, jenes Amalgam aus Hebräisch, Aramäisch, slawischen Elementen und dem Mittelhochdeutschen, das die seit 1100 aus dem Rheinland geflohenen Juden mitgebracht hatten. Im Zweiten Weltkrieg haben die Deutschen diese Kultur unwiederbringlich ausgelöscht. Die Wissenschaftlerin Sabine Koller, Professorin für Slavisch-Jüdische Studien an der Universität in Regensburg, stellt jetzt beim „Literarischen Frühling in der Heimat der Brüder Grimm“ ein neues Buch mit Erzählungen des Schriftstellers Dovid Bergelson (1884-1952) vor, die von dieser verlorenen Welt des Ostjudentums handeln. „Dieses Buch ist eine Kostbarkeit, die gerade in der heutigen Zeit eine besondere Aufmerksamkeit verdient“, erklärte dazu Christiane Kohl, die Leiterin des nordhessischen Literaturfestivals. „Dovid Bergelson, der aus einem Schtetl in der Ukraine stammte, war einer der wichtigsten Autoren, die in jiddischer Sprache geschrieben haben. Seine eigenwilligen Erzählungen bieten eine seltene Möglichkeit, in die jiddische Sprache und in den einzigartigen Kosmos der Schtetl hineinzuhorchen.“ Die Veranstaltung findet am Donnerstag, dem 3. April, um 16:30 Uhr in der früheren Synagoge in Vöhl statt – „sie ist für dieses Thema der beste denkbare Ort“, sagte Christiane Kohl.


Deutsche Militär- und Polizeieinheiten hatten in ihrem Rassenwahn in der NS-Zeit nach dem Überfall auf Polen 1939 und die Sowjetuni0n 1941 zahllose Dörfer, Städtchen und Städte vor allem in Polen, der Ukraine, Weißrussland und Litauen zerstört und die Bewohner umgebracht. Millionen Juden wurden gezielt ermordet, nicht nur in den berüchtigten Vernichtungslagern. Der Autor Dovid Bergelson, der ab 1907 in Kijyw, ab 1920 in Berlin lebte, hatte diese Zeit in der Sowjetunion überstanden. Wie andere Juden hoffte er, in der UdSSR werde die jiddische Kultur mit der Gründung des Jüdischen Autonomen Bezirks von Birobidschan im Fernen Osten eine dauerhafte Heimstatt erhalten. Doch Bergelson wurde 1949 von stalinistischen Schergen verhaftet und 1952 im Rahmen einer antisemitischen Kampagne im berüchtigten Gefängnis Lubjanka in Moskau hingerichtet, zusammen mit rund 30 weiteren prominenten Juden, darunter den 13 bekanntesten Künstlern jiddischer Kultur. Man sprach von „der Nacht der ermordeten Dichter“. Prof. Dr. Sabine Koller hat nun im Jüdischen Verlag des Suhrkamp-Verlages unter dem Titel „Die Welt möge Zeuge sein“ gemeinsam mit ihrer russischen Kollegin Dr. Alexandra Polyan eine Sammlung von Erzählungen Dovid Bergelsons neu herausgegeben, die sie bei der Veranstaltung in Vöhl vorstellen wird. Die jiddische Sprache und Literatur sind ein Schwerpunkt ihrer Forschungen. Die studierte Slawistin und Romanistin hat auch Bücher über den weißrussischen Maler Marc Chagall und das russische Theater im 20. Jahrhundert geschrieben.

Prof. Dr. Sabine Koller: Foto Uni Regensburg

Die Lesung in Vöhl fügt sich ein in eine Reihe von mehr als zwei Dutzend Veranstaltungen, mit denen der „Literarische Frühling in der Heimat der Brüder Grimm“ im nächsten Frühjahr vom Freitag, dem 28. März bis zum Sonntag, dem 6. April 2025, aufwartet. Zu den prominenten Autorinnen und Autoren gehören die junge Kult-Schreiberin Caroline Wahl und der Satiriker Harald Martenstein, der Sprach- und Himmelsforscher Raoul Schrott, der TV-Produzent und Moderator Hubertus Meyer-Burckhardt sowie die Journalisten Franziska Augstein und Wolfgang Büscher. Ein besonderer Akzent liegt auf dem Leben der Bauern. Zum 500. Jahrestag des Bauernkrieges präsentiert der Fachhistoriker Gerd Schwerhoff eine neue Sicht auf dieses Schlüsselereignis der deutschen Geschichte. Der Schriftsteller Reinhard Kaiser-Mühlecker, selbst ein Biolandwirt, liest aus seinem neuesten höchst ungewöhnlichen Heimatroman. Nähere Einzelheiten dazu finden sich auf der Website www.literarischer-fruehling.de, wo auch Eintrittskarten gebucht werden können. Wer aktuell über die weiteren geplanten Veranstaltungen sowie über mögliche kurzfristige Änderungen informiert werden möchte, kann unter der Internet-Adresse kontakt@literarischer-fruehling.de kostenlos den Newsletter des Festivals abonnieren.

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