Vöhl(od). Die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht sollte noch sechs Wochen dauern. Weite Teile des Deutsches Reichs waren schon von den alliierten Truppen erobert worden und nach und nach kam der Krieg auch in die Region, die bisher weitgehend von Kriegshandlungen verschont worden war.
Immer öfter stellten sich Menschen dem Wahnsinn des Hitlerregimes entgegen und stoppten das fanatisierte „letzte Aufgebot“, in der Regel Hitlerjugen. Das war auch in Vöhl so, Karl David Fingerhut trat drei Hitlerjungen entgegen, die Vöhl vor den anrückenden amerikanischen Truppen mit Sturmgewehr und Panzerfäusten verteidigen wollten. Mit entschlossenem Auftreten und bewaffnet mit einer Mistgabel, zwang der alte Schmiedemeister Fingerhut, die drei Endsieg-Verteidiger ihre Waffen in den Aselbach zu werfen und die Amerikaner besetzten Vöhl nach ein paar Drohschüssen, aber ohne Zerstörung und Opfer unter der Bevölkerung.
Vor 70 Jahren: Wie Karl Fingerhut Vöhl rettete
Von Karl-Heinz Stadtler
Ende März 1945: Der Zweite Weltkrieg ging seinem Ende entgegen. Zwölf Jahre Hitler-Diktatur und insbesondere der Krieg hatten zwar unendliches Leid über die Menschen in Europa gebracht, aber viele Deutsche waren immer noch dem Hitlerwahn verfallen. Sicherlich hatte der Glaube an die Unfehlbarkeit des Führers seit der verlorenen Schlacht um Stalingrad nachgelassen; die Landung der Alliierten in Sizilien im Juli, die auf dem italienischen Festland im September 1943 und dann auch in der Normandie im Juni 1944 hatten ein Übriges dazu beigetragen. Das Bombardement deutscher Städte durch britische und amerikanische Bomber hatten den Krieg nach Deutschland hineingetragen; ab Januar 1945 besetzten die alliierten Truppen deutsche Gebiete, im März begann ein wahrer Sturmlauf der westlichen Alliierten durch Deutschland; die deutschen Truppen mussten sich ebenso schnell zurückziehen.
Am 19. März 1945 erließ Hitler den „Befehl betreffend Zerstörungsmaßnahmen im Reichsgebiet“, kurz „Nerobefehl“ genannt. Nach der Taktik der „verbrannten Erde“ sollte den vorrückenden Truppen der Feindmächte nur zerstörte Infrastruktur hinterlassen werden. Vielerorts führte dies dazu, dass Straßen, Brücken usw. gesprengt wurden. Fanatisierte Parteigenossen, SA- und SS-Männer versuchten sich häufig den Soldaten der Siegermächte entgegenzustellen. In der Regel führte dies zur Beschießung der betreffenden Ortschaften.
In Lelbach, Wellen und anderen Orten im heutigen Waldeck-Frankenberg kam es zu solchen Aktionen, bei denen oft auch Menschen getötet wurden. Auf dem Lelbacher Friedhof zum Beispiel gibt es noch heute eine gemeinsame Grabstätte für vier deutsche SS-Leute und ein Grabmal für einen polnischen Zwangsarbeiter, die damals Opfer ihres Wahns wurden.
In Vöhl gab es einige Hitlerjungen, die sich den anrückenden Truppen in den Weg stellen wollten. Sie waren vom Jahrgang 1928 und 1929, also gerade mal 15 bzw. 16 Jahre alt, als sie 1944 als „letztes Aufgebot“ zum Stellungsbau für die Ardennenoffensive beordert wurden. Recht ironisch beschreibt dies der Anfang 1929 geborene Hermann Henkel in einem Rückblick: „Leider hatte ich … nur wellige, braune Haare und braune Augen und keine blonden Haare und blaue Augen. Ich konnte nur durch Mut beweisen, dass ich ‚germanischer Art‘ war. An Größe fehlten mir außerdem einige Zentimeter, um 1,61 groß zu sein, das Mindestmaß für die Elite. Klimmzüge allmorgendlich an Mutters Küchenschrank sollten das Wachsen beschleunigen.“1 Zur ironischen Betrachtung dieser Zeit konnte Henkel sich fünfzig Jahre später verstehen; 1944/45 waren das sehr ernste Sorgen des Hitlerjungen. Nach wenigen Wochen im Westen kamen die Jungs nach Vöhl zurück, und weil sie doch unbedingt auch für Deutschland kämpfen wollten, ließen sie sich im Wehrertüchtigungslager auf dem Masloh in Vöhl aufnehmen. Dies wurde von SS-Unterführern geleitet, die wegen Verwundungen nicht mehr kriegsfähig wurden. Neben der Ausbildung an der Waffe wurden die Jugendlichen weiter ideologisch „geschult“. Dass die Waffenausbildung in jenem Lager nicht so furchtbar intensiv war, beweist ein Todesfall, den Henkel so schildert: „Einer von uns verlor dann in der Eile der Ausbildung sein Leben auf ‚Stracken Weide“ an der Kegelbahn, indem er die Panzerfaust abdrückte, während er das Ausstrahlrohr der Triebrakete vor den Bauch hielt.“ (Die Panzerfaust legte sich der Soldat normalerweise für den Abschuss auf die Schulter oder klemmte sie sich zwischen Oberarm und Rumpf.)
Als Ende März die amerikanischen Truppen von Süden her näher kamen, wurde den Hitlerjungen des Wehrertüchtigungslagers der Rückzug Richtung Norden befohlen. Der erwähnte Hermann Henkel, außerdem Karl Seibel und Burkhardt Falkenthal aber wollten nicht weglaufen, sondern Vöhl verteidigen, und zwar mit Panzerfäusten und Sturmgewehren 44. Sie wurden – ihrem Wunsch entsprechend – als Nachhut abkommandiert und zogen bewaffnet durch den Ort Richtung Herzhausen.
Doch noch im Dorf wurden sie gestoppt, und zwar von dem 68 Jahre alten Schmiedemeister Karl Fingerhut vor dessen Haus, das an einer Brücke über den Aselbach lag und heute noch steht. Fingerhut war alter Sozialdemokrat, als solcher schon immer ein Gegner Hitlers gewesen, wie Herman Henkel berichtet, und ein Veteran des Ersten Weltkriegs. Aufgrund seines nunmehrigen Verhaltens vermutet Henkel in ihm auch einen erfahrenen „Nahkämpfer, denn in Null-Komma-Nichts hatte ich sein Bajonett auf der Brust, in Form einer Mistgabel. …
Nicht nur meine Begleitung, sondern alle Nachbarn … hielten die Luft an, als Fingerhuts Onkel Karl mir auf offener Straße, wohl das erste Mal seit 1933 so offen ausgesprochen, an den Kopf warf, dass Hitler der größte Lump aller Zeiten wäre, der ganz Deutschland ins Elend gerannt habe, und dass wir Idioten immer noch nicht gelernt hätten und noch am letzten Tage ganz Vöhl ins Unglück brächten. Entweder flögen die Gewehre und Panzerfäuste in den Bach, oder es ginge nur über unsere Leichen weiter.“
Henkel, Seibel und Falkenthal folgten der Aufforderung und warfen ihre Waffen über das Brückengeländer in den Bach und gingen nach Hause.
Am Karfreitag des Jahres 1945 – also am 30. März – zogen amerikanische Soldaten in Vöhl ein. Sie schossen ein paar Mal, ohne Schaden anzurichten, doch das war sofort vorbei, als Hermann Henkel, Sohn des Küsters, auf dem Kirchturm ein weißes Bettlaken hisste.
Vielleicht haben sie sich damals etwas geschämt, jene drei Jungs, weil sie sich von dem alten Karl Fingerhut hatten stoppen lassen. Im Nachhinein werden sie gewusst haben, dass Fingerhut richtig gehandelt hat.
Vöhl und die Vöhler jedenfalls haben dem alten Schmiedemeister und Sozialdemokraten Karl Fingerhut viel zu verdanken.