Belarus: ein kaum bekannter Staat

Bürgermeister Rüdiger Heß, Referentin Dr. Astrid Sahm, Sektionsleiter Holger Schmör. Foto: Manfred Weider/nh

Frankenberg(Manfred Weider/nh). Mit dem Vortrag „Weißrussland – der neue Vermittler im Osten?!“ brachte die Gesellschaft für Sicherheitspolitik e.V., Sektion Waldeck-Frankenberg (GSP) für viele der zahlreichen Zuhörer im wahrsten Sinne des Wortes den weißen Fleck auf der europäischen Landkarte zum Strahlen. Bürgermeister Rüdiger Heß überraschte Sektionsleiter Holger Schmör vor dem Vortrag mit der Übergabe eines Schecks zur Unterstützung der Arbeit der GSP.

Als Referentin hatte die GSP Dr. Astrid Sahm eingeladen. Sie ist Jahrgang 1968 und seit 2012 Leiterin der Berliner Repräsentanz des Internationalen Bildungs- und Begegnungswerks (IBB). Als achtjährige wollte die Referentin bereits wissen, wie es hinter dem Eisernen Vorhang aussieht. Lernte russisch neben ihrer Schulausbildung in der Volkshochschule, studierte die Sprache auch in Moskau. Von 2006 bis 2011 war sie die deutsche Leiterin der Internationalen Bildungs- und Begegnungsstätte »Johannes Rau« in Minsk (Belarus). 1995 bis 2005 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin bzw. Assistentin am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung sowie am Lehrstuhl für Politische Wissenschaft und Zeitgeschichte der Universität Mannheim. Nach ihrer selbst vorgetragenen Vorstellung fühlten sich die Anwesenden versetzt nach Minsk, der Hauptstadt von Belarus, einem Staat der so groß ist wie die alte Bundesrepublik Deutschland mit etwa 9,5 Millionen Einwohnern. Ihre Forschungsgebiete sind Belarus, Ukraine, Demokratieförderung, Energiepolitik, Politik und Gesellschaft eines Landes / einer Region, Umweltpolitik, Entwicklung von Zivilgesellschaft, nationale Identitätsbildung und Erinnerungskultur, Energie- und Umweltpolitik, Entwicklung des politischen Systems und Integrationspolitik von post-sowjetischen Staaten (insbesondere Belarus und Ukraine) im europäischen Kontext Sie erklärte zu Beginn des Vortrags, dass der Begriff Weißrussland in Belarus wegen der sprachlichen Verbindung zu Russland verpönt ist, nicht benutzt wird. Im historischen kurzen Rückblick zeigte Sahm zwei prägente Ereignisse auf. Erstens die Verbindung zu Deutschland, die heute noch geprägt ist von der Besatzungs- und Vernichtungszeit durch das Hitlerregime. Ein Drittel der Bevölkerung ist hierdurch umgekommen. Das zweite Ereignis war die Katastrophe von Tschernobyl 1986. 70% des Fallouts ging über Belarus nieder, 2,4 Millionen Menschen, etwa ein Viertel der Bevölkerung, wurde geschädigt. Drei Jahre gab es keine Aufklärung, keine Maßnahmen um die Bevölkerung zu schützen seitens des Staates, damals die UDSSR. Diese Traumata wirken noch heute bei den Belarussen. Dem Staat fehlt auch eine eigene staatspolitische Tradition. Nach dem ersten Weltkrieg konnte man kurze Zeit von einem eigenen Staat sprechen. Ansonsten war Belarus immer Teil eines Gebildes. Vollkommen unvorbereitet trat Belarus 1991 nach dem Zerfall der UDSSR den Weg in die Selbstständigkeit an. Hierin liegt ein Grund warum 1994 Aljaksandr Lukaschenka Präsident wurde und trotz seiner autoritären Führung bis heute im Amt ist. Die Bezeichnung „letzte Diktatur Europas“ lehnt Dr. Sahm ab. Autoritär ja, aber nicht diktatorisch. Die Freizügigkeit im privaten Bereich mit Diskobesuchen und anderen mit unserem Freizeitverhalten vergleichbaren Aktivitäten nannte sie als Beispiel hierzu. Oberstes Staatsziel ist der allumfassende Führungsanspruch durch den Präsidenten und seinen Staatsapparat. Betont wird immer wieder die Selbstständigkeit und Souveränität. Auch gegenüber Russland. Trotz der Abhängigkeit durch die russischen Lieferungen von Öl und Gas konnte eine Abgabe von Souveränität bisher vermieten werden. Zur Ukraine werden gute Beziehungen gepflegt. Dies allein schon wegen der guten Handelsbeziehungen. Zwei Milliarden Handelsüberschuss mit der Ukraine als Kompensation zu den sechs Milliarden Defizit gegenüber Russland gibt man nicht auf. Das Verhältnis zur EU ist nicht das Beste. Hierzu hat ihrer Meinung nach die EU viel beigetragen, weil sie keine durchgehende Strategie hat, stellte Dr. Sahm fest. Warum bietet sich Belarus als Vermittler an? Diese Rolle wird genutzt, um die eigenen Interessen zwischen den verschiedenen Welten auszutarieren. Mit dem Anschein eines neutralen Staates soll die Eigenständigkeit gefestigt werden. Die Vermittlerrolle von Belarus sieht die Referentin als begrenzt. Die Ausführungen von Dr. Sahm regten zu vielen Nachfragen und einer angeregten Diskussion an. Ihren Vortrag hielt Dr. Sahm am nächsten Morgen vor 80 Schülern und Lehrer der Hans-Viessmann-Schule. Das Fazit beider Zuhörergruppen: Der weiße Fleck auf der Landkarte ist jetzt sehr bunt geworden und wird wesentlich mehr Aufmerksamkeit bekommen als bisher.(od)

Leave a Comment

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.